Der Regen in London hat mir noch nie wirklich etwas ausgemacht. Ganz im Gegenteil! Ich liebe den beruhigenden Rhythmus seiner Tropfen, sein Prasseln auf meiner Haut und die reine Luft, mit der er in meine Lungen spült. Er lässt mich zurück auf die hohe See reisen – zumindest für einen kurzen Augenblick. Jedoch mischt sich in den Wintermonaten zu den dichter werdenden Regenschauern ein eisiger Wind, welcher mit kalten Händen tief in die Lüftungsschächte von Newgate greift und die letzte Herbstwärme aus den Mauern zieht. Ein eiskalter Vorbote von Krankheit und Tod auf den Straßen und der Weihnachtstage in den Häuser Londons. Die letzten Jahre waren es das Opium und der Alkohol, die mich die Tristesse dieser Tage bis spät in den März hinein ertragen ließen. Nicht aber dieses Jahr. Es war an der Zeit, mit dieser Gepflogenheit zu brechen. Doch brach ich nicht nur mit diesem Ritus, sondern im wahrsten Sinne auch in das Büro des Gefängnisdirektors ein.

Ich hatte die letzten Monate damit verbracht das Geheimnis der Insassinnen aufzudecken, um dann zu erkennen, dass es von einem noch größeren Mysterium umgeben war. Eine Dunkelheit, welche sich weit über die Mauern Newgates hinaus erstreckte. Lange dachte ich über Roses Worte nach und suchte vergeblich einen Ausweg. Auch wenn Rose angedeutet hatte, dass der XXXXXXXXDirektor ein Teil dieses korrupten Netzwerks war, hoffte ich insgeheim, dass sie sich in ihm täuschte. Fehlte mir zu diesem Zeitpunkt einfach etwas Handfestes, was die Behauptungen von Rose oder ihre Unschuld bewiesen hätte. Finden konnte ich diese Beweise wahrscheinlich nur an einem Ort: dem Büro des Gefängnisdirektors.

Da kam der Beginn der frostigen Wintertage gerade richtig. Die Temperaturen in Newgate sanken, eine unangenehme Feuchtigkeit kroch durch die Ritzen des Mauerwerks und es gab mehr Insassinnen als dicke Wolldecken. Nicht umsonst wurden die Wochen nach dem Jahreswechsel häufig als kleine Eiszeit bezeichnet. Der Frost war nicht so heftig wie im letzten Februar, als auf der gefrorenen Themse der Frostjahrmarkt stattgefunden hatte, dennoch glichen die Mauern eher Eis als Stein. Unweigerlich nahm damit unter den Insassinnen sowie allen anderen Personen innerhalb Newgates die Gefahr von sich schnell ausbreitenden Krankheiten zu. Während dieser Wochen hatte der Gefängnisdirektor daher die Angewohnheit eher unpässlich zu sein. Er flüchtete regelrecht vor der Ansteckungsgefahr und war nur selten in Newgate anzutreffen. Der ideale Zeitpunkt also, um ungestört seine Aktenschränke zu durchsuchen.

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Der Einbruch in die Räumlichkeiten wie auch die Suche nach auffälligen Akten gestaltete sich hingegen schwieriger als ich erwartet hatte. Am Ende war es eine simple Zimtstange, die mich auf die richtige Spur führte. Es war nämlich die krude Angewohnheit des Direktors, seinen Tee mit den aromatischen kleinen Stangen zu würzen, weshalb er ein kleines Säckchen Zimt in einer der Schubladen seines Eichentisches lagerte. Als ich diese aufzog, rollte eine dieser Zimtstangen auf dem hölzernen Boden hin und her. Das Geräusch, welches sie dabei verursachte, war wider Erwarten hell und wie sich herausstellte, besaß die Schublade einen doppelten Boden. Unter diesem lag ein recht unscheinbarer Schlüssel. Er passte zu einem der kleinen eisenbeschlagenen Eichenschränke an der gegenüberliegenden Wand. Neben einigen Goldmünzen enthielt er einen fest verschnürten Dokumentenstapel, welcher sich aus Regierungsanweisungen, Schreiben der Corporation of London, Briefen der East Indian Trading Company und mir unbekannten Absendern sowie Akten von mehreren Insassinnen zusammensetzte.

Darunter auch die Akten der Insassinnen Caitlyn und Evie sowie der von Rose, alle versehen mit einem rotweißen Papiersiegel. Ohne Zögern brach ich das von Roses Akte.

Die Aussagen der Angehörigen, die Beschreibung des Tatorts, die Darstellung der Leiche ihrer Schwester Anni und das Urteil – kaum mit der Sichtung der Unterlagen begonnen, konnte ich dessen Inhalt bildlich vor mir sehen. Es schien, als ließe ich die Mauern Newgates hinter mir und würde einen kleinen aber feinen Schuhladen betreten. Da stand sie: Rose. Eine zurückhaltende, ehrbare junge Dame, die mit einer zuvorkommenden Leichtigkeit Kunden bediente. Sie war eine hübsche Frau, die das heiratsfähige Alter schon seit längerem erreicht hatte, in Sachen Männern jedoch eher schüchtern war – bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr zukünftiger Verlobter den Laden betrat: Ein recht umgänglicher Bursche, der ihr nach wenigen Wochen den Heiratsantrag machte.

Dann wurde alles schwarz. Im nächsten Moment stand Rose im kleinen Esszimmer ihres Elternhauses, sie hatte einen glühenden Schürhaken in der Hand, ihr Verlobter kniete mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Boden und Annis lebloser Körper lag vor dem Kamin.

Ich legte die Aussage des Vaters beiseite. Die letzten Absätze seiner Darstellung der Tatnacht waren bis auf die letzten beiden Sätze geschwärzt worden. Verwundert ging ich zu den Ausführungen der Mutter über. Erneut fand ich mich in dem kleinen Schuhladen wieder, diesmal saß Rose faul in der Ecke und machte einen eher gelangweilten wie zerzausten Eindruck. Dennoch schien ein Kunde, ein stattlicher junger Mann aus gut betuchtem Hause, einen Narren an ihr gefressen zu haben. Schon nach kurzer Zeit machte er ihr einen Heiratsantrag. Verwunderlich war, dass Anni anscheinend ein Problem mit dieser Verbindung hatte. Dabei war sie es, die sich immer vor ihre kleine Schwester Rose stellte und nur das Beste für sie wollte.

Alles wurde schwarz – ein erneuter Sprung innerhalb der Schilderungen. Wieder sah ich Rose im kleinen Esszimmer stehen, den glühenden Schürhaken in der Hand, ihr Verlobter kniend mit blutüberströmtem Gesicht und der leblose Körper ihrer Schwester vor dem Kamin. Auch wenn mich der Jähzorn bei diesen wenigen von Roses Mutter niedergeschrieben Worten packte, machte mich die erneute Unvollständigkeit der Zeilen mehr als stutzig.

Beide Aussagen waren nachträglich geschwärzt worden. Ich hatte den Rest der Akte durchgesehen. Aber weder fand ich Hinweise auf den Verlobten, die genaue Todesursache ihrer Schwester noch was in dieser Nacht tatsächlich geschehen war. Auffällig war allerdings ein Brief, der am Ende der Akte lag. Der geöffnete Umschlag war, wie die anderen in dem Schrank, mit einem Frankierfrei-Stempel versehen. Ansonsten war lediglich der Adressat vermerkt: Direktor. Die einzelne Seite innerhalb des Umschlags wies zwar kaum mehr Worte auf, diese enthielten dafür aber eine eindeutige Botschaft.

Direktor. Schwarze Tinte verbirgt das Dokumentierte.
Dunkles Mauerwerk verschluckt das Lebende.
Hellklingender Wohlstand trifft den Handelnden.
Leuchtende Unterstützung den Schweigsamen.
London dankt Ihnen, Herr Direktor.

Aufgeregt riss ich die Siegel der Akten der Schlächterin von Whitechapel und der Hebamme von Hertfordshire auf. Ich war der festen Überzeugung, dass sich Caitlyn, dieses verrückte Weibsstück, genau am richtigen Ort in London befand, doch auch ihre Akte war voller schwarzer Balken. Zeugenaussagen, beteiligte Personen und die Informationen über die Opfer – nichts von alledem war mehr kenntlich. Selbiges bei Insassin P-236, Evie, der Hebamme von Hertfordshire: Hier wurde der komplette Bericht des Seelenarztes geschwärzt. Aus den verbliebenen Worten konnte ich mir immerhin ableiten, dass Evie eigentlich zur Heilung ins Bethlem Hospital, einer Psychiatrie draußen in Moorfields, hätte kommen sollen. Dabei fiel mir auch wieder ein, woher ich den Namen Evie kannte. Sie war in Roses Zelle untergebracht. In meinen Augen war sie völlig irre! Rose hingegen vertraute ihr und hatte mir erzählt, dass Evie sich aufopferungsvoll um die jüngeren Insassinnen kümmerte. Doch ihre Akte enthielt keinerlei Hinweise auf etwas Gutes in ihr. Ersichtlich waren nur noch zwei Dinge: die angeblich von ihr verübten Grausamkeiten und ein Brief. Ein Brief, welcher absolut identisch mit denen in den Akten von Rose und Caitlyn war. Derselbe Stempel, die gleichen Worte und der gleiche Adressat: der Direktor. Ich suchte Beweise, dass der Gefängnisdirektor an der Manipulation beteiligt war, nun hielt ich sie in den Händen!

Ich nahm die Akten sowie einige der Briefe, die eine direkte Verbindung zwischen dem Direktor und anderen hochrangigen Männern Londons vermuten ließen, an mich. Die restlichen Unterlagen schob ich zusammen und legte sie an ihren rechtmäßigen Platz zurück. Dabei fiel mir ein Brief des Lord Majors auf, in dem er dem Gefängnisdirektor seine Unterstützung bei seinem Problem »Elizabeth Fry« zusicherte. Ihre Bestrebungen, bessere Haftbedingungen für die Insassinnen zu schaffen, waren aktuell eine nervige Unannehmlichkeit für den Gefängnisdirektor. Doch dank der Unterstützung von obersten Regierungsmitarbeitern, gingen Frys Erfolgschancen gegen Null. Nun, vielleicht sollte sich das mit einem Manipulationsskandal ändern!

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