Akte der Insassin S-623

Die Schlächterin
von Whitechapel

NAME
Caitlyn
GEBOREN
02. November 1778
HERKUNFT
Wales
VERBRECHEN
Mehrfacher Mord
STRAFE
Tod durch den Strang
Tatwaffe der Schlächterin - Hammer
Hintergründe

Caitlyns Geschichte

Der Griff um den Stiehl wurde fester und der Hammer glitt leise durch die Luft, um kurz darauf mit donnernder Wucht das glühende Eisen auf dem Amboss zu bearbeiten. Jeder Schlag erhellte die kleine schummrige Werkstatt ein bisschen mehr und tauchte sie, gemeinsam mit dem Feuer des Schmiedeofens, in ein warmes Licht. Die Luft war geschwängert vom Geruch der Kohle, während sich die Hitze im Gebälk des Daches staute. Zu hören war lediglich die prasselnde Glut des Schmiedeofens, welche in regelmäßigen Abständen durch den hellen Klang des Metalls unterbrochen wurde. All diese Eindrücke gehörten nur Caitlyn, es war ganz alleine ihr Reich.

Jedes Mal wenn ihr die glühenden Funken an die Unterarme sprangen, ihre Backen sich durch die Hitze rot färbten und die Schweißperlen sich vom Hals den Weg ins Dekolleté bahnten, vergaß Caitlyn, dass es außerhalb der Werkstatt ihres Vaters noch eine andere Welt gab. Während sie arbeitete ließ sie die dreckigen Straßen Londons, die Armut des East Ends und die Erniedrigungen, die sie als alleinstehende Frau erfuhr, völlig hinter sich. Denn jenseits dieses Hauses akzeptierte niemand eine Frau, die in einer Schmiede einen Hammer schwang anstatt die alten Lumpen ihres Gatten zu waschen. Ohnehin hatte kein Mann irgendein Interesse daran, eine Frau zu ehelichen, die einer Tätigkeit nachging, die normalerweise von Männern erledigt wurde.

Doch Caitlyn brauchte keinen Mann, sie wollte keinen Mann! »Meine eigene kleine Welt in der Schmiede ist alles, was ich brauche und liebe«, dachte sich Caitlyn und schlug fester auf das Eisen ein. Außerdem konnte sie ihren alten Vater nicht mit der Schlosserei und all der Arbeit alleine lassen. Seit der Skorbut ihre Mutter dahingerafft hatte, hatte er doch nur noch sie. Caitlyn merkte, dass der Hammer mit jedem Schlag schwerer wurde. Es war schon spät und die paar Sonnenstrahlen, die es durch den Dunst Londons schafften, hatte die Dunkelheit schon vor geraumer Zeit verschluckt.

Caitlyn legte den Hammer beiseite, löschte das glühende Eisen im Wassereimer ab und wischte sich mit dem Tuch, mit dem sie zuvor ihre Haare nach hinten gebunden hatte, den Schweiß aus ihrem Gesicht. Sie öffnete das kleine Fenster der Werkstatt, knöpfte den obersten Knopf ihres Hemdes auf und atmete zweimal tief durch.

»Wo bleibt der alte Herr eigentlich?«, fragte sich Caitlyn. »Er wollte doch    lediglich zwei Türbeschläge ausliefern«. Es waren zwar nur ein paar Pennys, was die Beschläge einbrachten, doch konnten sie endlich wieder frisches Brot und neue Kohlen kaufen.

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Ihre Gedanken wurden durch zwei kräftige Schläge an der Eingangstür unterbrochen. »Wer ist da?«, rief Caitlyn. Eine Männerstimme antwortete ihr schroff: »Es geht um die Türschlösser des Herrenhauses.«

Normalerweise war es ihr Vater, der bei den Herrschaften vorstellig wurde, um einen Auftrag zu erhalten. Selbstverständlich kam es gelegentlich vor, dass der ein oder andere Kunde zu ihnen kam, dann jedoch vermied es Caitlyn, bei der Arbeit gesehen zu werden. »Mein Vater ist nicht da, er liefert noch Türbeschläge aus. Kommen Sie doch morgen wieder!«, bat Caitlyn den Mann auf der anderen Seite der Tür.

Die Stimmlage des Gegenübers wurde daraufhin freundlicher: »Entschuldigen Sie die Störung zu solch später Stunde, Miss! Jedoch schickte mein Vater Richard Hadley meinen Vetter und mich, um mit ihrem Herrn Vater die bevorstehende Ausstattung unseres Herrenhauses zu besprechen. Es wäre schön, wenn wir hier auf ihn warten könnten!« Caitlyn wurde unsicher. Sie waren auf jeden Auftrag angewiesen und zudem war ihr der Familiennamen nicht unbekannt. Wenn sie sich nicht irrte, besaß die Familie ein paar der Fabriken nahe den Docks. Sie lebten im östlichen Teil der City of London und beauftragten des Öfteren die Handwerker des East End.  Zögerlich schloss sie die Tür auf.

Die jungen Herren, die über die Schwelle traten, trugen beide einen zweireihigen Gehrock, darunter jeweils ein weißes Hemd und in der Hand einen hölzernen Gehstock. Der erste vornehme Eindruck, den die Beiden machten, verflog jedoch bei näherer Betrachtung. Ihr Gang war eher plump, die Stiefel abgetragen, und als die beiden in der Schmiede waren, vernahm Caitlyn den Geruch von schalem Bier. Sie blieb jedoch freundlich: »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

»Gerne, meine Süße!«, antwortete der angebliche Vetter und musterte Caitlyn von oben bis unten. Er betrachtet ihren schweren Rock, das wollene von der Arbeit verschmutzte Hemd und die lederne Schürze um ihre Hüften. »Hast du noch einen Bruder oder wer leistet in diesem Haus die Schmiedearbeit?«, fragte er verächtlich, als Caitlyn den Tee servierte. »Mein Vater und ich sind alleine,« entgegnet Caitlyn zurückhaltend, »und nachdem mein Vater zu alt für diese schwere Arbeit ist, leiste ich sie.«

»Du, eine Frau?«, die beiden verfielen in schallendes Gelächter. »Wahrscheinlich bist du gar nicht die Tochter des Schmieds, sondern sein Sohn in einem Kleid!«, grölte der Sohn des Fabrikbesitzers. Im selben Augenblick zog sein Vetter Caitlyn auf seinen Schoß, riss ihr wollenes Hemd auf und schob seine Hand in ihr Unterhemd. »Doch kein Sohn,« sagt er, während er Caitlyn brutal an die Brust fasste.

Der Schmerz, den Caitlyn im ersten Moment spürte, wich einem entsetzlichen Gefühl aus Panik und Ekel. Mit aller Kraft rammte Caitlyn ihm den Ellenbogen ins Gesicht, riss sich aus seinem Griff und hechtete in Richtung ihrer Werkzeuge. Doch noch bevor sie ihren zweiten Schritt machte, spürte sie, wie die Rückhand des Hadley Sohns ihre linke Gesichtshälfte erschütterte. Caitlyns Kopf donnerte auf den harten Steinboden und der metallische Geschmack von Blut machte sich in ihrem Mund breit. Sie erkannte nur noch schemenhaft die beiden Gestalten, die über ihr standen, bevor die Dunkelheit von ihr Besitz ergriff.

Caitlyn kam zu sich, ließ die Augen jedoch geschlossen. Ihr ganzer Körper war taub und das Blut, das aus ihrer aufgeplatzten Lippe quoll, war bereits angetrocknet. Der Ofen war längst ausgegangen, sodass ihre Beine der eingetretenen Kälte schutzlos ausgeliefert waren. Sie presste die Augenlider fest aufeinander und horchte, ob noch jemand in der Werkstatt war. Es herrschte Totenstille. Keine Schritte, kein metallisches Klingen des Hammers, nicht einmal das Knacken der Glut war zu hören. Ihre kleine Welt war erloschen. In dieser völligen Stille blieb Caitlyn einfach regungslos liegen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor bis sie endlich die Augen öffnete. Lediglich ein schwacher Mondschein blitzte durch die angelehnte Tür und erhellte einen kleinen Teil der Werkstatt vor ihr. Die Außenwelt, vor der sie sich so lange versteckt hatte, war an diesem Abend brutal in ihr isoliertes Reich eingedrungen. Caitlyn begann zu zittern, wusste jedoch nicht, ob es die Kälte des Steinbodens oder der Schmerz war, der ihren Körper durchdrang.

Sie richtete sich langsam auf und blickte den kalten Mondschein entlang. Wenige Meter entfernt lag ihr Schlosserhammer, der einen langen Schatten bis zu der Stelle warf, an der sie sich befand. Es war, als wäre der warme rotgoldene Schein, der diesen Raum noch wenige Stunden zuvor erhellt hatte, durch die angelehnte Türe geflohen. Die Türe, die die abschätzigen Blicke verheirateter Frauen abschirmte. Die Türe, die die herablassenden Kommentare der Kohlehändler verstummen ließ. Die Türe, die die schamlose und erniedrigende Belästigung von Männern auf den Straßen Londons zurückhielt. Sie hatte ihre Macht verloren. Caitlyn sah sich weiter in der Werkstatt um, aber das Einzige, das sie ausmachen konnte, waren Schatten. Erschaffen durch das tote, stumpfe Licht, welches sich von Draußen seinen Weg ins Innere bahnte. »War es so töricht von mir, dieser Realität entkommen zu wollen?« fragte sich Caitlyn.

Die Tränen rannen ihr über das Gesicht. Alles kam ihr fremd und befleckt vor. Caitlyn überkam eine wahnsinnige Wut und sie begann alles um sich herum zu zerschlagen. Als sie jedoch den Hammer packte, spürte sie, wie er sich in seiner gewohnten Art und Weise in ihre Hand legte, ganz so, als wäre nichts geschehen. »Das Problem ist nicht mein Wunsch die zu sein, die ich sein will «, dachte Caitlyn, »das Problem sind diejenigen, die es wagten, genau das in Frage zu stellen.«

Sie spürte, wie sich blanker Hass in ihrem gesamten Körper breitmachte. Er durchfloss ihre Adern wie ein warmer Strom. Ihre Atmung wurde schneller, das Pochen der Schmerzen wich dem stärker werdenden Herzschlag und Caitlyn erkannte: Nur Rache konnte verhindern, dass sie an der Realität anderer Zugrunde ging. Sie stieß die Tür der Werkstatt weit auf, trat auf die White Chapel Road und machte sich auf die Suche nach ihren Peinigern. In der rechten Hand fest umschlossen: ihr Schlosserhammer.

Caitlyn wusste genau, wo sie suchen musste. Zu gut kannte sie den Geruch des abgestandenen Bieres, welches sie in der nahegelegenen Bierstube ausschenkten, in die ihr Vater von Zeit zu Zeit ging. Eine kleine Klitsche mit billigem Bier in der Nähe der Church Lane. Caitlyn stieß die Türen der Bierstube auf. Sofort stieg ihr der Geruch von Bier und Schweiß in die Nase. Das Herzstück des kleinen Raumes bildete eine lange hölzerne Theke auf der linken Seite. Gegenüber dem Eingang lag die Hintertür, durch die man zu den Gassen hinter der Bierstube kam, auf denen sich die minderjährigen Jungen in Frauenkleidern prostituierten. Speckige Tische und Stühle aus Holz nahmen den restlichen Raum der Schenke ein. Als Caitlyn ihren Blick über die Plätze gleiten ließ, sah sie Prostituierte auf dem Schoß älterer Männer, Betrunkene mit ihren Köpfen auf der Tischplatte und in der Mitte des Raumes: die beiden Widerlinge. Mit drei anderen Kerlen saßen sie da, stürzten Bier in ihre Mäuler, sodass die Hälfte rechts und links herunterlief und grölten dabei vor sich hin. Caitlyn spürte bei jedem Schritt, den sie näher an den Tisch kam, wie sich ihre Hand stärker um den Griff des Hammers schloss. Gleichzeitig schien sich der Hass wie gleißendes Sonnenlicht bis in die letzte Faser ihres Körpers auszubreiten. Sie hörte nur noch das Rauschen ihres Blutes, als der Vetter sie erblickte und rief: »Na Süße, brauchst du Nachsch…«

Weiter kam er nicht, denn Caitlyns Hammer donnerte in diesem Augenblick bereits mit voller Wucht auf seinen Kopf und es war nur noch das Knacken seiner Schädeldecke zu hören. Noch bevor die anderen reagieren konnten, riss Caitlyn den Hammer erneut in die Höhe und zerschmetterte das Gesicht des Hadley Sohns. Die anderen Männer stolperten voller Entsetzen über die Stühle, sodass jeder weitere Schlag von Caitlyn den Boden mit noch mehr Blut tränkte.  Jedes Mal, wenn ihr das Blut an die Unterarme spritzte, die Knochen der Gewalt ihres Hammers nachgaben und der Blick der Männer erstarb, wusste Caitlyn, dass Hass das Einzige war, was die Realität dieser Kerle kannte.

Wanted

The tortured women