Akte der Insassin P-236

Die Hebamme
von Hertfordshire

NAME
Evie
GEBOREN
14. März 1783
HERKUNFT
Irland
VERBRECHEN
Mehrfacher Mord
STRAFE
Tod durch Enthauptung
Tatwaffe der Hebamme - Schere
Hintergründe

Evies Geschichte

Evie öffnete ihre Augen. Sie rieb sich ihre noch trägen Lieder und blickte gegen die Morgensonne in das verträumte Gesicht von Newt. Sie blinzelte noch einmal kurz, um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr schlief, aber die hasel­nuss­braunen Augen ihres Mannes schauten sie noch immer an. Evies Blick schweifte über die Fältchen rund um seine Augen, die dunkel­blonden Haar­strähnen, die ihm über die Stirn fielen, und den getrimmten dunklen Schnauzer, der seine feinen Lippen einrahmte. Ihr ganzes Gesicht wurde durch ein glückliches Lächeln erfüllt, welches Newt mit einem verschmitzten Grinsen erwiderte. »Guten Morgen, meine Liebe. Wie hast du geschlafen?«

»Gut! Doch wenn du mich morgens so anblickst, habe ich noch immer das Gefühl als befände ich mich weiter in einem märchen­haften Traum«, erwiderte Evie verträumt. »Na dann lasse ich euch beide noch etwas weiter­träumen!« Ihr Mann lachte, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und stand auf.

Evie drehte sich auf den Rücken, sodass sie mit der Hand sanft über ihren Bauch streichen konnte. Zuerst spürte sie unter ihren Fingern lediglich die Seide ihres Nacht­hemdes, doch dann spürte sie eindeutig die sanften Tritte. Sie wusste es würde ein pracht­voller kleiner Junge werden, der in ein paar Wochen ihr Glück perfekt machen würde. Evie stand auf, trat an den großen runden Spiegel und betrachtete entzückt den kugel­runden Bauch unter ihrem langen Nachthemd.

Ihr jetziges Leben kam ihr immer noch so unwirklich vor, war sie doch seit jeher eine eher zurück­haltende Frau gewesen. Das Einzige, in dem sie sich jemals sicher gefühlt hatte, war ihre Tätigkeit als Hebamme. Das erste Mal, dass sie Hilfe bei einer Geburt geleistet hatte, war als junges Mädchen bei der Nieder­kunft ihrer Schwester gewesen. Ein ungewöhnlicher Umstand, welcher in Evie die Leiden­schaft für die Geburts­hilfe geweckt hatte. Gleichwohl entwickelte sie als Hebammen­gehilfin ihrer Mutter eine wahre Begabung darin. Dies ging soweit, dass sie auch noch nach deren frühem Tod von allen in ihrem Viertel in dieser Position akzeptiert wurde. Damals dachte sie oft, dass sie als Hebamme froh sein konnte, wenn sie überhaupt einen Mann fand. Doch dann traf sie Newt Rogers, einen betuchten Arzt aus London. Er war liebens­wert, zuvor­kommend und wenige Wochen später ihr Ehemann. Welch Glücks­gefühl sie doch damals überkommen hatte, als sie sich das erste Mal mit Misses Rogers vorstellte. Während Evie an ihre Zeit in London dachte, wanderte ihr Blick vom Spiegel zum Fenster, hinaus über die sonnen­gelben Felder, die hinter ihrem neuen Landhaus lagen. Selig strich sie sich weiter über den Bauch und sprach vor sich hin.

»Schon bald wirst du durch den Garten springen, wir werden dir dabei zusehen und die glücklichste kleine Familie hier in Hertford sein. Dank dir, mein Sohn!«

Tage später schien das Glück Evie jedoch verlassen zu haben.

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»WARUM? Warum tust du mir das an?« schrie Evie, während sie mit ihren Fäusten auf die Brust ihres Mannes einschlug. Newt jedoch reagierte weder auf die Schreie noch auf die Schläge seiner Frau. Sie schluchzte, legte ihren Kopf auf seine kalte Schulter und begann bitterlich zu weinen. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, in der Evie schluchzend neben dem auf­gebahrten Leichnam ihres Mannes stand, bis sich Pater Cartwright ihrer annahm.

»Kommen Sie, Mrs. Rogers, setzen Sie sich einen Moment« versuchte er sie zu beruhigen. Er führte Evie vom offenen Sarg ihres Mannes zu einer der hölzernen Bänke der Kapelle. Evie nahm ihn nicht einmal wahr, ihre Gedanken waren nur bei Newt. Es war nur ein harm­loser Fehler von ihm gewesen; lediglich ein kleiner Schnitt mit einem Skalpell, welchen er sich selbst während einer Behandlung zugefügt hatte. Doch dieser hatte genügt, um das Wund­fieber auszulösen, von dem sich Newt nie wieder erholte. Evie sackte vor Erschöpfung in sich zusammen.

Seit der Beerdigung mussten ungefähr zwei Wochen vergangen sein. Genau wusste es Evie nicht, als sie an diesem wolken­verhangenen Tag aufwachte. Ihre Erinnerung an die letzten Tage waren löchrig. An manchen Tagen war es, als hätte sie den Vortag einfach übersprungen. In dieser Zeit hatte sie das Haus­mädchen entlassen, war nur selten aus dem Haus gegangen und hatte keinerlei Besuch empfangen. Doch obwohl sie niemanden ins Haus gelassen hatte, schien es, als wäre sie nicht alleine gewesen. So erinnerte sie sich an einen Morgen vor drei Tagen: Als sie das Speise­zimmer betrat, fand sie einen für zwei Personen gedeckten Früh­stücks­tisch vor. Genauso, wie sie es immer für ihr gemeinsames Frühstück mit Newt getan hatte, wenn das Haus­mädchen nicht anwesend war. Nur konnte sie sich nicht mehr entsinnen, dies am Vortag getan zu haben. An jenem Morgen brach sie alleine durch den Anblick der zwei Gedecke zusammen. Auch jetzt, Tage danach, überkam sie schreck­liche Trauer, wenn sie sich das Bild des gedeckten Tisches in den Kopf rief.

»Nie wieder werde ich mit Newt essen. Nie wieder erwarten mich seine zärt­lichen Blicke, wenn ich die Augen aufschlage. Nie wieder werde ich seine Stimme hören«, dachte Evie und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen. Doch dann riss eine heftige Bewegung in ihrem Bauch sie aus ihrer Schwermut. Es war das erste Mal seit der Beerdigung, dass Evie wieder bewusst die Tritte ihres ungeborenen Kindes wahrnahm, Newts Kind. Das Einzige, das von ihm blieb und sie überhaupt dazu brachte morgens aufzustehen. Für ihr gemeinsames Kind musste sie stark sein, sie durfte nicht die Kontrolle verlieren.

In den darauf­folgenden Tagen konnte Evie die Trauer über Newts Tod weitest­gehend verdrängen. Auch waren die Gedächtnis­lücken, mit denen sie immer wieder zu kämpfen hatte, größten­teils verschwundenen. Umso stärker kündigte sich die Geburt ihres Kindes an. Ihr Bauch hatte sich bereits erkennbar abgesenkt und leichte Blutungen hatten eingesetzt. Es war ein verregneter und stürmischer Abend, als Evie merkte, dass ihre Frucht­blase geplatzt war. Für Hilfe war es zu spät. Also holte sie frische Leinen­tücher aus der Kommode, einen Wasch­zuber mit frischem Wasser und schleppte sich zu ihrem Bett. Sie kämpfte mehrere Stunden lang mit den Wehen. Schweiß­gebadet und der Erschöpfung nahe, brachte Evie in ihrem Bett einen Sohn zur Welt. Im Haus der Rogers blieb es in dieser Nacht jedoch toten­still.

Der Sturm hatte sich verzogen und die ersten schwachen Sonnen­strahlen zwängten sich durch die grauen Wolken, als die Hinter­türe des kleinen Land­hauses am Rande von Hertford auf­gestoßen wurde. Eine Frau in einem blut­befleckten Nacht­hemd trat auf den Rasen. In der rechten Hand hielt sie eine Schaufel und unter ihrem linken Arm klemmte ein kleines blutiges Leinen­paket. Es verging eine halbe Stunde, bis sie ohne das Leinen­paket wieder das Haus betrat.

Sie verstaute die Schaufel, wusch sich den Dreck von den Armen und Beinen, zog sich ihr schwarzes, mit roter Spitze besetztes Kleid an und machte sich die Haare. Mit einem prüfenden Blick stellte sie sich vor den Spiegel. »Herrje, Evie Liebes, du bist ja ganz blass! Du trägst doch Newts Sohn in dir, da solltest du besser auf dich aufpassen« sagte sie in einem vorwurfs­­vollen Ton zu ihrem Spiegel­bild. »Na, wie wäre es, wenn wir dir eine kräftige Suppe zum Abend­brot kochen?«

»Das ist eine fabel­hafte Idee!«, antwortete sie sich selbst. Sie schnappte sich einen gefloch­tenen Korb, um gleich darauf das Haus in Richtung des Marktes von Hertford zu verlassen. Nach ein paar Metern begegnete sie der Ehefrau von Pater Cartwright. »Hallo Mrs. Rogers. Sie sehen etwas blass aus. Geht es Ihnen gut?«

»Oh hallo! Uns hat wohl das gestrige Unwetter etwas zugesetzt« erwiderte Evie lächelnd und strich zärtlich über ihren Bauch. Etwas stutzig betrachtete Mrs. Cartwright Evies Bauch. Er wirkte nicht, als stünde die Geburt noch aus. Mrs. Cartwright war es jedoch sichtlich un­an­genehm, ihre Beob­achtung anzu­sprechen, da sie auf Newts Tod und die damit verbundene Trauer Evies Rück­sicht nehmen wollte. Also versuchte sie höflich das Thema zu wechseln.

»In der Tat, ein gräss­licher Sturm war das. Sollten Sie sich in dem großen Haus ohne Mr. Rogers jemals alleine fühlen, wissen Sie ja, dass Sie jeder­zeit bei uns willkommen sind, meine Liebe.«

»Vielen Dank, sehr aufmerksam von Ihnen«, entgegnete Evie Mrs. Cartwright freundlich, zeigte sich jedoch sichtlich verwundert über ihre Äußerung. Diese enthielt Bedenken über eine mögliche Abwesen­heit ihres Mannes und so schob sie etwas bissig nach: »Aber unser Newt ist ja heute Abend zum Abend­brot wieder zuhause.«

Mrs. Cartwright wich einen Schritt zurück, konnte jedoch die leichte Bestürzung in ihrer Stimme nicht verbergen: »Entschuldigen Sie meine Direkt­heit, Mrs. Rogers, aber ihr Mann ist vor kurzem von uns gegangen!« Evies Blick versteinerte sich. Sie hatte alles unter Kontrolle, ihr Leben mit Newt war perfekt und das ließ sie sich sicherlich nicht durch so eine Frechheit kaputt machen. »Was erlauben Sie sich? Finden Sie diesen Scherz nicht etwas makaber? Unser Newt ist lediglich geschäft­lich in London.«

Die Ehefrau des Paters wurde unsicher, ließ jedoch nicht locker. Mit bedacht sanfter Stimme hakte sie erneut nach: »Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie gekränkt habe. Aber geht es Ihnen wirklich gut, Evie?« Während­dessen sah Mrs. Cartwright, dass sich Evies Gesichts­ausdruck immer weiter verkrampfte. Doch auch Evie bemerkte, dass sie nicht nur ihre Manieren vergaß, sondern Mrs. Cartwright gegenüber immer miss­trauischer wurde. Wenn sie sich weiter so benahm, bekam sie diese neu­gierige Frau nie los.

»Entschuldigen Sie, aber wir müssen jetzt wirklich unsere Besorgungen auf dem Markt tätigen« antwortete Evie daraufhin knapp. »Auf Wiedersehen!« Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, ging sie weiter in Richtung Markt­platz. Mrs. Cartwright hingegen blickte Evie noch eine ganze Weile ratlos hinterher.

Als Evie ihr Ziel erreichte, hatte sie den Zwischen­fall mit Mrs. Cartwright bereits wieder vergessen. Selig schlenderte sie durch die kleinen Stände des Markt­platzes und suchte nach dem passenden Gemüse für ihre Suppe. Sie ließ sich ihre Laune auch nicht durch den wolken­verhangenen Himmel oder den schlammigen Markt­platz­boden verderben. Selbst als die ersten Regen­tropfen fielen, genoss sie es, mit geschlossenen Augen jeden einzelnen Tropfen auf ihrem Gesicht zu erspüren. Die dunkle Wolken­decke wurde schnell dichter, sodass aus einzelnen Tropfen ein leichter Schauer wurde. Sie öffnete wieder ihre Augen.

Kurz verschleierte der Regen ihr die Sicht, aber dann erkannte Evie gleich den Markt­platz des Ortes. Sie bekam Panik. Wie war sie hierher­gekommen? Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war ihre geplatzte Frucht­blase. Ihr Kind! Evie schaute an sich herunter. Doch ihr Bauch, der über neun Monate stetig gewachsen war, war flach. Es bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals, ihr Herz und ihre Gedanken rasten. »Mein Sohn!«, schrie Evie. »Was ist mit meinem Sohn?«

»Beruhige dich, Evie! Ihm geht es gut, ich kümmere mich um ihn.« Evie sah sich erschrocken um. Sie stand inmitten der Markt­stände. Aufgrund des Regen waren jedoch nur wenige Menschen unterwegs und niemand schien sich wirklich um sie zu scheren. Ihre Bewegungen wurden hektischer. Wer war die Frau, die ihr antwortete?

»Wer bist du? Zeige dich!« Auf der Suche nach dem Gesicht zu der Stimme, wanderte ihr Blick panisch von einer Person zur nächsten. Es waren jedoch nur Händler in ihrer Nähe, die sie mit abschätzigen Blicken bedachten, und die anderen wenigen Anwesenden machten einen großen Bogen um sie.

»Ich bin deine Freundin, Evie. Ich passe auf dich auf«, versicherte die Frau erneut mit zuversicht­licher Stimme. Evie war sich sicher, dass niemand in ihrer direkten Umgebung mit ihr gesprochen hatte. Langsam überkam sie ein Gefühl der Angst. Zögernd und mit zwei wachsamen Augen ging sie die Markt­stände ab. »Lass mich in Ruhe! Ich will doch nur wissen, was mit meinem Kind ist«, flehte sie die Unbekannte an.

»Evie, du standst am gestrigen Abend wie auch in den vergangenen Wochen neben dir«, versuchte die Stimme sie zu beschwichtigen. »Du hast mich gebraucht und ich habe mich um alles gekümmert.«

»Was hast du mit meinem Baby gemacht?«, rief Evie verzweifelt. Sie drehte sich erneut hektisch um, konnte die Frau, die ihr antwortete, jedoch noch immer nicht ausmachen. Es war unerträglich – sie musste hier weg. Sie packte ihren Rock an beiden Seiten, zog ihn ein paar Zenti­meter höher und eilte so schnell sie konnte zu ihrem Land­haus am Rande des kleinen Städt­chens zurück.

Am Haus angekommen, riss Evie die Haustüre auf und stürmte ins Schlafzimmer. Aber das Einzige, was auf die Vorkommnisse der letzten Nacht schließen ließ, war das blutbefleckte Bettlacken auf ihrem Bett. Bruchstückhaft kamen ihr dabei die Erinnerungen an die letzte Nacht: der Waschzuber, die frischen Laken, die Schmerzen. Evie ahnte Böses, konnte sich jedoch sonst an nichts erinnern. Tränen rannen ihr über die Wangen. Verzweifelt sackte sie auf das Bett und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Was ist mit meinem Sohn passiert?«, wimmerte sie, bevor sie erneut die Stimme der unbekannten Frau vernahm – hier in ihrem Schlafzimmer.

»Evie. Ich sagte doch schon: Ihm geht es gut!«

Evies Kopf raste. Erschrocken sprang sie auf und sah sich im ganzen Raum um. »WER BIST DU? Wo versteckst du dich?« Ihr Blick schweifte den Spiegel. Sie erwartete, darin in ihr von Panik gezeichnetes Gesicht zu blicken, doch es war ein gefasster ruhiger Blick, der ihr entgegenschaute. Zudem redete ihr Spiegelbild im gleichen Moment wie die unbekannte Frau. »Ich bin du«, erklärte ihr Spiegelbild mit ruhiger Stimme, »und du bist ich.«

»Nein. Nein. Das kann nicht sein,« Evies Herz raste, sie bekam kaum noch Luft. »Wie kann das sein? Das ist doch nicht möglich.« Es schien, als berste ihr Kopf. Verzweifelt versuchte sie ihn mit ihren Händen zusammenzupressen. Sie schrie ihren Spiegel an:

»WAS HAST DU MIT MEINEM SOHN GEMACHT?« Das Gegenüber im Spiegel blieb jedoch ruhig. Lediglich ihre Augen schienen Evie besorgt anzusehen. »Evie, beruhige dich. Du, Newt und euer kleiner Sohn werdet eine glückliche Familie. Doch du musst mir vertrauen!«

Evie ging einen Schritt auf den Spiegel zu. Definitiv war das kein Traum, doch dieses Spiegelbild, dieses andere ich von ihr, war nicht real. Es musste einfach eine Einbildung sein. Und so entgegnete sie abfällig: »Dir vertrauen? Du existierst nicht! Du bist lediglich in meinem Kopf.«

Mit einem leicht beleidigten Gesichtsausdruck verteidigte sich die Evie im Spiegel: »Und ob ich existiere. Ohne mich wäre deine kleine Familie schon längst zerbrochen. Du kennst die Wahrheit und tief in dir weißt du das auch. Also verleugne mich nicht leichtfertig! Ich weiß, dass du meine Anwesenheit in den letzten Wochen gespürt hast.«

Ein Gefühl der Ohn­macht machte sich in Evie breit. Sie konnte sich nicht mehr an die Ereignisse der letzten Nacht erinnern. Sie war nicht mehr sie selbst, ja schlimmer noch, sie wurde verrückt! Evie ballte ihre Faust und kurz darauf zerbarst der Spiegel in tausend Teile. In diesem Moment schlug jemand die Türe des Schlaf­zimmers auf. »Evie! Evie, bist du hier drinnen? Die Haus­türe war offe… « Gladys stockte, als sie den zer­brochenen Spiegel sah. In ihrem Gesicht machte sich Verwir­rung breit.

»Alles in Ordnung, Evie?«, fuhr sie fort. Von der Unter­brechung völlig über­rascht, vergaß Evie für einen kurzen Moment den Spiegel und ihr Alter Ego. Gladys war hier in der Stadt schon als Hebamme tätig gewesen, bevor Evie nach Hertford gekommen war. Dass sie hier auf­tauchte, war jedoch unge­wöhnlich. »Gladys! Was machst du hier?«

»Ich brauche deine Hilfe. Die Frau von dem Bauern­hof außerhalb der Stadt liegt schon seit mehreren Stunden in den Wehen und ich weiß nicht mehr weiter«, erklärte Gladys. Ihr Blick blieb die ganze Zeit über auf dem zer­brochenen Spiegel haften, wanderte dann jedoch über das Bett hin zu dem blutigen Bett­laken. Mit einem besorgten Ton fragte sie: »Was ist hier passiert, Evie?«

Evie rang nach einer Erklärung. »Da war ich vorhin nur einen Moment unachtsam und zerbreche durch meinen Leicht­sinn diesen schönen Spiegel. Aber ich habe mir lediglich eine kleine Schnitt­wunde zugezogen.« Mit einer abwehr­enden Hand­bewegung drängte Evie Gladys aus dem Schlaf­zimmer. Sie wollte verhindern, dass Gladys noch weiter nach dem blut­befleckten Laken oder dem Spiegel fragte. Also versuchte sie sie abzu­lenken, indem sie die Aufmerk­samkeit wieder auf die Geburt der Bauers­frau lenkte.

»Was ist passiert, Gladys? Wie kann ich helfen?«, fragte Evie so ruhig wie sie nur konnte. »Ich schaffe es nicht den Kopf des Kindes zu drehen. Durch deine Erfahrung aus London schaffst du es vielleicht eher, das Kind gesund zur Welt zu bringen.« Evie hatte keine Wahl; sie musste ihr folgen, um weiteren Fragen zu entkommen. Außer­dem wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre Erinner­ungen an die Gescheh­nisse der letzten Nacht zurück­kommen könnten, wenn sie erneut mit der Situation einer Geburt konfron­tiert würde.

Die Nieder­kunft war für Mutter und Kind eine qual­volle Prozedur. Das Baby hatte sich nicht gedreht. Evie gelang es erst nach geraumer Zeit, das Kind in die richtige Position zu bewegen. Doch je näher die Ent­bindung kam, desto mehr kamen Evie die Erinner­ungen an ihre eigenen qual­vollen Stunden am Abend zuvor. Die frischen Leinen­tücher, die Schmerzen, das Blut, jedes noch so kleine Detail kam zurück. Bis zu dem Punkt, an dem ein pracht­voller kleiner Junge das Licht der Welt erblickte. Evie durch­schnitt die Nabel­schnur, wickelte das Kind in saubere Leinen­tücher und hielt den schreienden Jungen in ihren Händen.

Fast im gleichen Moment vernahm sie wieder die vergnügte Frauen­stimme, die sie auf dem Markt­platz und von ihrem Spiegel­bild gehört hatte. »Siehst du, Evie, ich habe dir doch gesagt: Ich passe gut auf ihn auf!«

»Ein Sohn. Ich wusste es würde ein Sohn«, wisperte Evie aufgeregt. Gladys verstand nicht ganz, was Evie sagte, aber allem Anschein nach sprach sie mit dem Jungen. Sie wand sich der erschöpften Mutter zu. »Glück­wunsch. Es ist ein gesunder und statt­licher Junge. Wissen Sie bereits, wie er heißen soll?«

»Ethan. Er soll Ethan heißen«, antwortete Evie noch bevor die Mutter es tun konnte. Dabei schaute sie freude­strahlend auf das kleine Bündel in ihren Händen.

»Den Namen sollte doch wohl die Mutter des Kindes auswählen. Findest du nicht?« fragte Gladys sie verwundert und bat sie mit einer Hand­bewegung, ihr das Kind zu geben.

»Evie, sie versucht uns unseren Sohn weg­zunehmen«, beteuerte die Frauen­stimme.

Evie antwortete verwirrt: »Wieso sollte sie das tun?«

»Weil sie uns unser Glück nicht gönnt.«

Gladys bekam es mit der Angst zu tun. Evie redete mit sich selbst, aber ihre Stimme schien sich jedes Mal zu verändern. Dabei hielt sie den Jungen noch immer eng an ihrer Brust. Gladys versuchte ihr nun das Kind direkt aus den Händen zu nehmen.

»NEIN! DU NIMMST MIR NICHT MEINEN SOHN!«

»Evie, bitte gib mir das Kind. Es sollte zu seiner Mutter.«

»Es ist bei seiner Mutter!«, antwortete Evie, griff im selben Moment mit der freien Hand nach der Nabel­schnur­schere und rammte sie Gladys in den Hals. Den Jungen hielt sie in der anderen Hand immer noch fest um­klammert. Gladys Blick war von Schmerz und Entsetzen gezeichnet, aber Evie stach nun immer wieder mit der Schere auf ihren Brust­korb ein. Erst als sie reglos auf dem Boden lag, lies Evie von ihr ab.

Die von der Geburt noch ganz erschöpfte Mutter kauerte sich in die letzte Ecke ihres Bettes und wim­merte erbärmlich. Sanft legte Evie das Kind in den Korb mit den frischen Leinen. »Mama ist gleich wieder da.«  Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn, drehte sich zum Bett und schritt mit der Schere in der Hand auf die schluch­zende Mutter zu. Ein gezielter Stich, das Laken färbte sich blutrot und es war nunmehr nur noch das Prasseln des Feuers zu hören. Geruhsam ging sie zur Wanne mit dem frischen Wasser, wusch sich die blutigen Hände und blickte zu ihrem Spiegel­bild.

»Siehst du, Evie Liebes, wenn wir zusam­menhalten, steht unserem Glück niemand im Wege!« Vergnügt vor sich hin sprechend verließ Evie mit ihrem Sohn im Arm den Hof. »Oh mein kleiner Ethan, Daddy freut sich sicher sehr dich heute Abend zu sehen! Und dann fragen wir ihn gleich, was er von einem kleinen Schwester­chen hält. Dann hättest du jemanden zum Spielen.«

Wanted

The tortured women