Cillian, mein teurer Freund! Dies wird wohl mein letzter Eintrag sein. Ich weiß um deinen Anstand, daher wirst du das Bündel Unterlagen soeben erst geöffnet haben. Das heißt auch, dass du bereits den Brief aus Newgate erhalten hast, in dem du über meinen Tod informiert wurdest. Auch wenn ich dir während der Beichten bereits Einiges erzählt hatte, werde ich mit den kommenden Zeilen versuchen, die verbleibenden Lücken zu schließen. Nach dem, was du für mich getan hast, bin ich dir zumindest das schuldig.

Ich hoffe, du hast inzwischen Rose kennengelernt, denn das hieße, es ist soweit alles reibungslos verlaufen. Wenn nicht, bete zu Gott! Bete für Rose und wenn du kannst, bete für mich!

Cillian, ich bin schwach gewesen, habe mein Leben lang törichte Ziele verfolgt und wanderte selbst noch unter deiner Führung im Dunkeln. Nach der Zeit im völligen Rausch schwor ich, von nun an deinem Weg und der Perspektive, die du mir aufzeigtest, zu folgen!

Ich hörte Rose zu, verstand jedoch nicht, was sie sagte. Ich nahm an, mit der Enthüllung des Geheimnisses und der Zerstörung der Gemeinschaft der Insassinnen einen Schritt auf sie zuzugehen, doch waren Anerkennung und Aufstieg noch immer mein eigentlicher Antrieb. Mit der Zeit war ich bereit, immer größere Risiken in Kauf zu nehmen:  Heuchelei, Bestechung, Einbruch, direkte Konfrontationen und Gewalt. Bis zu dem Punkt, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte. Dem Punkt, an dem ich der festen Überzeugung war, dass ich Rose durch mein Handeln ins Verderben gestürzt hatte. Dem Punkt, an dem ich Insassin P-189 meine Geschichte so erzählte, wie ich sie auch dir gerne erzählen möchte.

Weiterlesen ...

Deine Gedanken werden sich überschlagen und du wirst deine Verbindung zu dieser Insassin suchen, doch die Verbindung ist so einfach wie naheliegend: die Bibel. Vielmehr die Bibel in der St. Patricks Church, welche mich erneut in die Kapelle von Newgate und zu Insassin P-189 führte: zu Isabella, der Nonne von Newcastle.

Im Zuge meiner Nachforschungen stieß ich auf die Gebetsbücher, welche von der Gemeinschaft für den Schmuggel des Gins gebraucht missbraucht wurden. Die heiligen Schriften waren meine letzte Spur, an welche ich anknüpfen wollte. Wie sich herausstellte ein winziger Strohhalm, an den ich mich klammerte. Ich war in der Kapelle also erneut an einem toten Ende angekommen, wusste nicht weiter und sackte auf einer der Holzbänke zusammen. Wie lange ich da im Mondlicht einfach nur dasaß? Ich weiß es nicht mehr. Das Licht meiner Öllampe war erloschen, meine Knochen hatten bereits die Kälte des Steins angenommen und das Gefühl der Hilflosigkeit war in jede Faser meines Körpers gedrungen. Ich bemerkte nicht einmal, dass die Seitentüre geöffnet wurde. So erkannte ich erst, als Isabella direkt vor mir stand, dass ich nicht mehr alleine in der Kapelle war.

Ihre Haltung strahlte die Ruhe einer steinernen Heiligenfigur aus und in ihren dunklen Augen war lediglich das Flackern der Kerze(n) zu erkennen. Mit einer einfachen Frage brach Isabella die Stille, welche wie ein schwerer Vorhang zwischen uns zu liegen schien: »Wo sind Rose und Evie?«. Trauer übermannte mich und stumme Tränen rannen über mein Gesicht. Ich konnte es nicht kontrollieren. Nein. Ich wollte es nicht kontrollieren! Es war eben dieser Punkt, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte und Isabella alles erzählte.

Ich begann mit jenem Tag, an dem ich Rose zum ersten Mal begegnet war, erzählte, wie aus diesem Moment, Zuneigung und schließlich Liebe wurde. Dass diese Liebe überschattet wurde; überschattet von dem Geheimnis der Insassinnen: Gin. Jenem Gin, welchen Rose bereits an jenem Tag in der großen Galerie bei sich getragen hatte.  Schon damals war Rose meinen Fragen ausgewichen und hatte dieses Geheimnis vor mir wie den Brief eines heimlichen Geliebten verborgen. Die an mir nagenden Zweifel über ihre Aufrichtigkeit waren so weiter genährt worden.

Ich schilderte der Nonne von Newcastle, wie du, mein teurer Freund, meine Augen öffnetest und meine Zweifel dem Glauben wichen. Doch nicht der Glaube, welchen du hofftest mir näherbringen zu können, erfüllte meinen Geist. Ich glaubte an eine Unterdrückung von Rose durch andere Insassinnen. Ich war überzeugt, mit der Zerstörung der Gemeinschaft Rose und unsere Liebe von einer unsäglichen Last befreien zu können. Liegt soviel Ironie in der Vorstellung, Freiheit hinter den Mauern Newgates zu finden?

Eine Frage, deren Antwort ich schuldig blieb. Dennoch folgten auf meine Überzeugung hin Taten und diese möchte ich dir, Cillian, genauso berichten, wie ich es gegenüber Isabella tat. Ich erzählte ihr von meinen Nachforschungen, welche mich zu dem Punkt brachten, an dem ich Rose in mein Vorhaben einweihen musste: die Zerschlagung der Gemeinschaft mithilfe des Direktors. Es war der Punkt, an dem ich hätte erkennen müssen, dass Rose nicht mein einziger Antrieb war. Doch ein weiteres Mal trübte mein Streben nach Anerkennung den Blick auf das Wesentliche. Denn Rose schilderte mir ein Bild, welches gegensätzlicher nicht hätte sein können. Der Gefängnisdirektor und nicht die Gemeinschaft seien der Ursprung aller Probleme. Er sei es, der Akten von Insassinnen manipulierte und scheinbar wahllos über Schuld und Unschuld richtete. All dies tat er mit einem einzigen dunklen Ziel vor Augen: der Verschleierung korrupter Machenschaften eines Systems der Mächtigsten und Reichsten unter uns.

Ob ich Roses Sicht der Dinge nicht begreifen konnte oder wollte? Ich weiß es nicht. Doch ich brauchte Beweise, um der Wahrheit ins Gesicht blicken zu können. Also brach ich in das Büro des Direktors ein und stahl XXXXXXXXXXbelastende Unterlagen. Sie bewiesen, dass der Direktor Akten von Insassinnen manipulierte und Teil eines korrupten, noch viel größeren Systems war! Ein System, welches Rose unschuldig hinter die Mauern von Newgate gebracht hatte. Was ich sah, konnte ich kaum fassen. Cillian, ich musste einfach etwas unternehmen! Auch wenn es meinen Tod bedeuten sollte. Und so schilderte ich eben auch Isabella mein anfängliches Vorhaben: Ich musste es schaffen, die Dokumente zu veröffentlichen, damit Rose ihre Freiheit erhielt und das System seiner gerechten Strafe zugeführt würde. Doch wie sich herausstellen sollte, trat ich damit eine Kettenreaktion unheilvoller Ereignisse los.

Der Direktor erfuhr von dem Einbruch und einige seiner Lakaien überrumpelten uns. Sie töteten Evie! Sie warfen Rose in die Dunkelzelle und wollten mir den Mord an Evie anhängen. Die Forderungen des Direktors waren klar: Er wollte die belastenden Dokumente, sonst würde Rose sterben und ich wegen des Mordes an Evie verurteilt.

Doch damit nicht genug. Denn ein weiterer Akteur hatte seine schmierigen Finger im Spiel: Franz Sylvius, der Gefängnisarzt. Er war es, der die Unterlagen aus meiner Wohnung gestohlen hatte. Im Gegenzug forderte er das Rezept der Insassinnen. Ein Rezept, welches ich nie herausgefunden hatte. Es war nahezu unmöglich, an das Rezept zu kommen. Doch wie sollte ich dann verhindern, dass Rose etwas Furchtbares angetan würde?

Mein lieber Cillian, du nahmst mir regelmäßig die Last meiner Schwächen von meinen Schultern. Dennoch floss an diesem Abend ein nie da gewesenes wie befreiendes Gefühl durch meinen Körper. Es war, als würde ich vor Isabella ein lang ersehntes Geständnis ablegen. Ich erwartete keine Absolution, doch nach wenigen Minuten wich das Gefühl der Leichtigkeit erneut den Zweifeln. Die Stille, die nun zwischen Isabella und mir lag, kam einem angerissenen Tau gleich, welches mich über einem Abgrund hielt und jeden Moment zu zerreißen drohte. In diesem Augenblick schien es, als träten die Zeiger aller Uhren Londons auf der Stelle. Bis zu jenem Moment, als Isabella endlich ihr Wort an mich richtete und sie im Gleichschritt meines pochenden Herzens losrasten.

»Eins sei dir gesagt: Egal wieviel du herausfinden wirst, das Geheimnis dieses Gins ist mehr als ein Rezept. Weder die richtigen Zutaten noch das Befolgen jedes einzelnen Schrittes werden zu diesem Gin führen. Du oder Sylvius werden nie verstehen, was seine eigentliche Essenz ist. Es ist kein Kraut, keine bestimmte Ausführung oder eine bestimmte Menge von etwas,  es liegt in der Gemeinschaft selbst und wird sich auch nur innerhalb eines   solchen Zirkels von Gleichgesinnten offenbaren.«

Doch Evies Tod war bereits ein herber Schlag für die Gemeinschaft und der bevorstehende Tod von Rose drohte der Untergang aller zu sein. Ob sie wollten oder nicht, die zurückliegenden Ereignisse zwangen die Insassinnen zum Handeln. Isabella sah keine Möglichkeit mehr, zur alten Ordnung zurückzukehren. Selbst wenn der Direktor die Unterlagen erhielte, würde er Rose wahrscheinlich nicht am Leben lassen. Zu nahe war ich seinem Netz aus Korruption, Intrige und Gewalt gekommen. Ein Netz, dessen Fäden weit über die Mauern Newgates hinausreichten. Ein Netzwerk aus mächtigen Strippenziehern, welche im Verborgenen agierten. Der Direktor konnte es sich nicht leisten, ihre Unterstützung zu verlieren und würde daher alles tun, um seine Stellung zu halten. Newgate würde ein noch dunklerer, ein noch grausamerer Ort werden.

Isabella sah lediglich einen Ausweg, um das Gleichgewicht von Licht und Schatten innerhalb der Mauern wiederherzustellen: einen Pakt. Sie wollte Rache für den Mord an Evie und ich sollte dafür Sorge tragen, dass sie sie bekam. Im Gegenzug sicherten mir die Insassinnen ihre Unterstützung bei der Beschaffung der Unterlagen und der belastenden Beweise zu. Die Unterlagen durften jedoch nicht der Gefängnisleitung in die Hände fallen. Stattdessen halfen mir die Insassinnen Rose zu befreien, sodass sie  die belastenden Unterlagen an Elizabeth Fry übergeben konnte. Die Reformerin erhielt so die Chance, die Korruption aufzudecken, den Direktor zu beseitigen und die Haftbedingungen nachhaltig zu verbessern.

Teurer Freund, du magst mich für verrückt erklären, doch der Kerzenschein in Isabellas Augen hatte sich während ihrer Ausführungen in ein loderndes Feuer verwandelt. Sie sah mich an und besiegelte unseren Pakt mit ein paar letzten Worten: »Sei gewiss, auf jeden ungläubigen Dämonen, der versucht meine Schwestern in die Hölle zu ziehen, wird Schwefel und Feuer niederregnen!«

Der Plan der Nonne von Newcastle war blanker Irrsinn, doch ich war bereit für Rose diesen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Denn eines wusste ich: Es war gewiss nicht alleine Gott, der aus Isabella gesprochen hatte.

Es gab jedoch noch eine letzte Hürde: die Wirtin von Walworth. Isabella brauchte die Zustimmung der ältesten Insassin und, was noch viel wichtiger war, sie musste Matilda davon überzeugen, das Rezept des Gins preiszugeben. Auch wenn die Insassinnen damit den schmalen Grat, auf dem sie wanderten, verließen, war es doch die einzige Möglichkeit, die alles entscheidenden Unterlagen von Sylvius zu erhalten.

Cillian, vielleicht hast du bereits die dunkleren Papierfetzen zwischen meinen Aufzeichnungen entdeckt und wirst somit erkennen, dass Matilda keinen anderen Ausweg sah, als Isabellas Plan zuzustimmen. Ich machte eine Abschrift für Sylvius. Du mein Freund, sollst jedoch das Original erhalten, steht es doch sinnbildlich für all meine vergangenen Bemühungen und falschen Bestrebungen. Leider muss ich dir in diesen letzten Zeilen einen Gefallen abringen.

Durch die bevorstehende Freiheit von Rose wurde mir bewusst, dass wir unsere persönliche Erfüllung nicht alleine erreichen können. Ohne einen menschlichen Anker werden wir früher oder später zu einem Geisterboot aus Haut und Knochen, dessen klapprige Planken lediglich durch Selbstzweifel und erbärmlichen Geltungshunger zusammengehalten werden. Dazu verdammt, auf trostlosen Realitätsmeeren umherzuirren, ohne Rast und Hoffnung, auch nur in die Nähe eines Zielhafens zu gelangen.

Nach ihrer Flucht wird Rose mehr denn je einen solchen Anker brauchen. Sie wird verloren sein, womöglich verfolgt werden und keine Chance mehr haben, in ihr Leben vor Newgate zurückzukehren. Cillian, du hast bereits mehr gegeben, als ich in weiteren zehn Leben zurückgeben könnte. Doch erweise mir bitte diesen letzten Gefallen und sei Rose ein Freund in dunkelster Stunde, denn ich werde nicht da sein, um ihr zurück ins Leben zu helfen. Ich traue weder dem Versprechen der Insassinnen noch glaube ich den Worten des Direktors, doch weiß ich eines mit Gewissheit: Die kleine Flasche Gin, die Rose in der großen Galerie bei sich trug, war der Schlüssel zu einer dunklen Welt.

Cillian, ich habe diese geheimnisvolle Welt betreten, ihre düstersten Geheimnisse gesehen und versucht, einige von ihnen ins Licht der Öffentlichkeit zu ziehen, gleichwohl werde ich aus ihren Schatten nicht wieder zurückkehren. Die Türe in diese Welt wurde jedoch gerade erst aufgestoßen …

Verpasse keine Enthüllungen mehr. Jetzt Akteneinsicht beantragen