Elendiger Mist! Meine Nachforschungen sind aufgeflogen! Die direkte Konfrontation mit Insassin S-623 zwingt mich nun, meine Karten offen zu legen. In den letzten Monaten war es schwierig, die Verbindungen zwischen all den losen Enden zu erkennen. Nun bleibt mir nur noch diese eine Chance, jene zu verknüpfen, die sich mir offenbart haben. Ich kann nur darauf hoffen, dass meine Beweise ausreichen, um das Geheimnis von Newgate aufzudecken und somit die XXXXXXXXXXkriminelle Gemeinschaft der Insassinnen zu zerschlagen. Die Gefängnisleitung kann einfach nicht länger ihre Augen verschließen. Wenn sie diese Aufzeichnungen vorliegen hat, ist sie gezwungen, gegen die beteiligten Frauen vorzugehen. Diese Beweise müssen einfach Wirkung zeigen. Sie sind meine erneute Gelegenheit zu beweisen, dass ich mehr bin – mehr als ein primitiver Wachposten. Außerdem habe ich Rose durch mein Handeln in große Gefahr gebracht.

Nach meinem Gespräch mit Dale, beunruhigte es mich, dass mir nicht klar war, wieviel Sylvius tatsächlich über den Gin wusste. Dennoch führten vor ein paar Wochen alle Hinweise zu ihm. Sylvius’ arrogante Art war schleimiger als die Haut eines frischgeborenen Kalbs. Und unter diesem Schleim verbarg sich diese perverse Verderbtheit, die mich abstieß wie der Gestank einer verwesenden Totgeburt. Er hingegen sah in mir noch immer einen Gleichgesinnten. Wenige Tage nach dem 10. Juli wollte ich mir das zu Nutzen machen und mich auf seine Spielchen einlassen, denn egal was er wusste, ich musste es auch wissen!

Ich hörte mir also stoisch seine selbstverherrlichenden Geschichten an und nippte dabei widerwillig an dem sämigen, nach Kardamom schmeckenden Mokka. Es gefiel Sylvius, dass ich, dem Anschein nach, meine Meinung über ihn geändert hatte. Er wurde redselig. So erfuhr ich von einer weiteren Insassin, die in einem völlig betrunkenen Zustand auf die Krankenstation gekommen war. Viel interessanter als ihr Zustand jedoch war, dass sie ebenfalls ein kleines Fläschchen bei sich getragen hatte. Doch sobald ich begann, mich näher für die Flasche oder die Insassin zu interessieren, flüchtete Sylvius in fadenscheinige Lügen. Die konnte er sich aber sonst wohin stecken! Dank Dale wusste ich, was es mit dieser Flasche auf sich hatte. Trotz allem blieb eine Frage offen: Wer war die fragwürdige Insassin, die er behandelt hatte? Nachdem Sylvius nichts rausrückte, entschloss ich mich, seine Krankenakten selbst durchzusehen.

Der Einbruch in Sylvius Büro in dieser schwülen Augustnacht hätte mich den Job kosten können. Dennoch führte er mich auf die Spuren der Insassin S-623. Gebürtiger Name: Caitlyn. Ihre Krankenakte verwies auf Gewalttaten in einem rauschartigen Zustand. In den darauffolgenden Tagen versuchte ich also mehr über Caitlyn, die sogenannte Schlächterin von Whitechapel, herauszufinden.

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Die meiste Zeit werden die Insassinnen auf dem begrenzten Raum der Gemeinschaftszellen sich selbst überlassen. Der Trakt, in dem die Zellen sich befinden, ist noch einmal in Sektionen unterteilt. Diese erstrecken sich seit dem Wiederaufbau vor 30 Jahren über mehrere Stockwerke, die wiederum über eine eiserne Galerie verbunden sind. Auf erbärmlich beengten Verhältnissen wird geschlafen, gegessen, gewaschen sowie die Notdurft verrichtet. In den Zeiten des Hofrundgangs können sich die Insassinnen in diesem Trakt und dem Spazierhof unter Aufsicht relativ frei bewegen. Die Morgentoilette, die Andacht und der Hofrundgang sind neben den Essenszeiten die einzigen strukturgebenden Elemente des Alltags hinter diesen Mauern.

Unter diesen Umständen waren Gruppenbildungen nichts Ungewöhnliches; das jedoch Caytlin, die Schlächterin von Whitechapel, der Wirtin von Walworth bei der Essensausgabe half, konnte kein Zufall sein. Somit verband die Gefängnisküche nicht nur Rose mit Matilda, sondern auch mit Caitlyn. Grund genug, um erneut meinem Verdacht nachzugehen.

Mit ein paar schmierigen Pennys war es erschreckend einfach, in die Küche zu gelangen. Schwieriger gestaltete sich hingegen die Suche. Sobald ich die eisenverschlagene Türe zugezogen hatte, erleuchtete lediglich schwaches Mondlicht und der Schein meiner Öllaterne den Raum. Auf den ersten Blick waren nur die speckigen Holzschränke, der gusseiserne Herd, die Blechbecher, in denen das Essen ausgegeben wird, und drei große Kupfertöpfe zu erkennen. Die Kost in Newgate besteht in der Hauptsache aus Suppe, Fleisch, Gemüse, Brot und Grütze. Auch wenn das Essen recht karg ausfällt, scheint die zuständige Köchin nie mit Gewürzen zu sparen, was sich in der Menge der Tontöpfe im Wandregal wiederspiegelte: Kümmel, Wacholder, Salz, getrockneter Lavendel, Koriander, Bohnenkraut – für eine Gefängnisküche eine Menge Auswahl. Ich hatte das Gefühl am richtigen Ort zu sein. Nur wusste ich nicht, wonach ich eigentlich suchte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich unter einem der Regale mehrere sonderbare Fußbodenplatten entdeckte. Auf einer der vorderen Steinplatten waren tiefe Kerben, die aussahen wie Schleifspuren. Auch die hintere Platte wies einige Kerben auf, jedoch nicht so willkürlich wie auf der vorderen. Nein. Sie waren sonderbar kreuzförmig. Die Platte an sich lag lediglich lose auf dem Untergrund. Ich hob sie weg. Zum Vorschein kam eine fein säuberlich ausgehobene Kuhle. Darin: ein wollenes Bündel. In diesem Wollbündel befand sich ein überdimensionierter Kupferdeckel. Er passte perfekt auf die Kessel der Küche. Zudem hatte er einen konisch geformten Kopf, an dessen Ende sich ein langes, nach unten hin, zulaufendes Rohr befand. Die einzelnen Teile wiesen bereits einige Alterserscheinungen auf, sahen aber dennoch so aus, als wären sie sorgfältig angefertigt und gepflegt worden. Was ich gesucht hatte, wusste ich nicht. Gefunden hatte ich jedoch alles was nötig war, um eine Destillation durchzuführen.

In jener Nacht legte ich alles wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurück, machte mir jedoch einige Skizzen. Ich wusste nun, wo der Gin hergestellt wurde. Sylvius wusste von dem Gin und schmuggelte für Grace. Ebenso schienen Matilda und Caitlyn unter einer Decke zu stecken. Sollte sich also herausstellen, dass Grace ein Teil der Gemeinschaft war, kamen sie wahrscheinlich über Sylvius an die Dinge, die sich nicht mit einer Bestechung der Wachen besorgen ließen. Mein Verdacht sollte sich einige Zeit später erhärten. Neben der Essensausgabe hatten Caitlyn und Matilda noch etwas gemein: die morgendliche Andacht. Auch wenn ich es nicht glauben konnte, war die Andacht die Verbindung zu Grace, die ich suchte. Hatte ich zunächst den Gedanken, Grace versuche lediglich ihre Sünden vor Gott zu rechtfertigen, wurde mir nach längerer Beobachtung klar, dass ihr Besuch der Andacht sowie der der anderen ein ganz anderes Ziel verfolgte.

Jeden Morgen füllten sich die Bänke mit Insassinnen. Da ich den tumultähnlichen Zustand zu Beginn des Gottesdienstes kannte, verwunderte es mich, dass bestimmte Insassinnen stets am selben Platz saßen. Auch schienen sie auf das Penibelste darauf zu achten, welches Gebetsbuchsie erhielten. Zu diesen Frauen gehörten unter anderem Matilda, Caitlyn, Grace, eine mir bis dahin unbekannte Insassin und zu meiner Verwunderung: Rose, die mich seit unserem letzten Gespräch im Sommer mit Ignoranz strafte. Zum Teil schien es sogar so, dass die Insassin, die die Bücher austeilte, von sich aus ein Exemplar zurückzog und ein anderes dafür herausgab. Ich musste unauffällig an eines der Bücher herankommen! Die zuständige Insassin sammelte allerdings die Gebetsbücher nach jeder Andacht wieder ein und schloss sie in einem schweren Holzschrank weg. Was ich also brauchte, war Chaos und zwar noch bevor die Gebetsbücher wieder eingesammelt wurden.

Der Vorfall in St. Giles vor wenigen Tagen brachte mich auf eine zündende Idee. Wie man sich erzählte, reichte dort die Explosion lediglich eines Fasses aus, um eine Kettenreaktion auszulösen, welche eine Bierlawine freisetzte. Diese wiederum riss mehrere Menschen und Häuser mit sich. Vielleicht etwas zu viel Chaos. Mit der leicht reizbaren Caitlyn hatte ich jedoch im wahrsten Sinne des Wortes ein menschliches Pulverfass zur Hand, für dessen Explosion lediglich ein Funke benötigt wurde, um eine ähnliche Kettenreaktion und das gewünschte Chaos auszulösen.

Ich konnte selbst kaum glauben, dass mein Plan dann tatsächlich während eines Gottesdienstes so gut funktionierte. Aber in dem Chaos, das Caitlyn verursachte, als sie einen der Wärter windelweich prügelte, hatte ich genügend Zeit mir ihr Gebetsbuch zu greifen.

Caitlyns Wutausbruch offenbarte mir außerdem ein weiteres Fragment des Geheimnisses: das Gebetsbuch. Das Leder war bereits abgegriffen und auf der speckigen Vorderseite war bloß ein kleines Kreuz. Es war zwar nicht, wie man ein Kreuz auf einem Gebetsbuch erwartete, doch war es eines, welches ich bereits kannte. Schnell schlug ich die ersten Seiten des Buches auf. Im Innern war nichts. Doch sagte die Aussparung in den Seiten einfach alles. Caitlyn selbst hingegen brachte der Wutausbruch für ein paar Tage in die Dunkelzelle. Ein kleiner lichtloser Raum, komplett verkleidet mit großen kalten Steinplatten, in den lediglich während des Öffnens der Türklappe ein karger Schein durch die dicke Eichentüre drang.

Im Gegensatz zu Caitlyn schien das Glück auf meiner Seite. Durch den fehlenden Buchinhalt wurde mir bewusst, wie der Gin unauffällig unter den Insassinnen aufgeteilt wurde. Ich kannte somit fast das gesamte Vorgehen der Gemeinschaft. Doch dann beging ich einen großen Fehler. Ich wurde übermütig. Ich wollte alles wissen. Ich wollte nicht länger warten und sah in der Strafe Caitlyns meine Chance, sie zum Reden zu zwingen. Ich besuchte Caitlyn in der Dunkelzelle. Sie machte einen erbärmlichen Eindruck. In Ketten gelegt kauerte sie in einer kalten Ecke. Sie schaute nicht einmal hoch, als ich die Tür öffnete. Daher nahm ich an, die Dunkelheit XXXXXX XXXXXXXXXXXXdieses Teufelslochs hätte sie gebrochen und versuchte es mit Wohlwollen. Es sollte sich als Irrglaube herausstellen. Ich erzählte ihr also von Sylvius, der Gefängnisküche, den Gebetsbüchern und zu guter Letzt von Rose und dem Gin. Ich bot ihr an, ihren Aufenthalt in diesem Loch entweder zu verkürzen oder aber zu verlängern. Es kam ganz darauf an, wie bereitwillig sie mir half. Mit meinen letzten Worten schienen neue Kräfte in Caitlyn zu fahren. Ruckartig richtete sie sich auf, schaute mir in die Augen und schrie mich an. Wüste Drohungen, von denen mir lediglich die folgenden Fetzen in Erinnerung geblieben sind:

»Denkst du kleine Ratte wirklich, dass ich einfach einknicke? Diese Gemeinschaft ist alles, was mich hier drinnen am Leben erhält. Dieses Loch ändert nichts daran! In wenigen Tagen bin ich hier raus und dann werde ich dich umbringen. Und Rose der kleinen Verräterin zerdrücke ich den Schädel!«

Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Noch viel schlimmer: Sie hatte recht! Sobald sie ihre Tage in der Dunkelzelle abgesessen hatte, konnte ich wenig tun, um Rose im Zellentrakt vor ihr zu schützen. Ich musste Rose warnen und meine Aufzeichnungen der Gefängnisleitung zukommen lassen.

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