Ich muss blind gewesen sein. Noch immer frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe, Zuneigung bei einer Insassin zu suchen. Es war wohl mein törichter Glaube, in Rose jemanden gefunden zu haben, der mit mir gemeinsam die Dunkelheit des Alltags und den Schmerz der Vergangenheit bewältigen möchte. Doch die Gespräche mit Franz Sylvius und der Insassin Grace haben mir das Gegenteil bewiesen.

Sylvius. Die Begegnung mit ihm im Bucket of Blood hatte mir einfach keine Ruhe gelassen. Ich wollte herausfinden, was dieser Schmierlappen über meine Beziehung zu Rose wusste. Mir war durchaus bewusst, dass er von meinen Besuchen an ihrem Krankenbett Wind bekommen hatte. Also suchte ich ihn in der Krankenstation auf. Dass er dann jedoch direkt auf das Arrangement zwischen mir und Rose zu sprechen kam, beängstigte mich sehr. Ich befürchtete, dass er dieses Wissen als Druckmittel gegen mich verwenden und drohen würde, mich zu verpfeifen. Meinem Gesicht war das wohl anzusehen, da Sylvius mich sofort beschwichtigte. Er sah in mir vielmehr einen Gleichgesinnten.

Wissbegierig fragte er mich nach allerlei abstrusen Dingen: Welche Art von Gefälligkeit Rose für mich leistete, wie ich meinen Teil der Übereinkunft beglich und ob ich Kräuter für sie schmuggelte. Ich verstand nichts, bis er mir von Insassin S-543 erzählte. Ihr Name war Grace, er jedoch nannte sie nur »Die Verführerin«. Seine Stimme zitterte vor Erregung, als er ihren Namen aussprach und dabei einen Schrank aufschloss, aus dem er ein hohes Paar Damenschuhe und ein Seil hervorholte. Ich hätte seine
XXXXXXXXXXXkrankhaften Ausführungen nicht gebraucht, um zu verstehen, was diese Insassin für ihn tat, damit er im Gegenzug für sie schmuggelte.

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Silvius gab mir damit einen Einblick in die ganze Verderbtheit seines Inneren. Es war die gleiche Fäule, die sich durch ganz Newgate zog. Rose war anders. In ihr konnte diese Dunkelheit nicht herrschen, wo sie doch in den letzten Wochen das Licht zurück in mein Leben gebracht hatte. Nein! Ich hatte mich nicht in ihr getäuscht. Sylvius, dieser kranke Idiot, hatte unrecht, was Rose betraf und das machte ich ihm klar. Der jedoch verfiel bei meiner Aussage in spöttisches Gelächter. Ich kann seine Worte, die daraufhin folgten, nur bruchstückhaft wiedergeben. Er sagte etwas wie:

»Newgate fordert nichts Geringeres von uns als das Dunkelste, was wir in uns tragen. Und auch wenn sie hier drinnen gefangen sind, diese Frauen haben sich die Schatten zu eigen gemacht. Wie? Das ist ihr Geheimnis.«

Sylvius Worte nagten in den darauffolgenden Tagen wie lästige Motten an mir. Die Sicherheit über Roses ehrliche Zuneigung zu mir begann zu schwinden. Eine direkte Konfrontation mit ihr wollte ich dennoch nicht eingehen. Zu groß war die Angst, sie mit falschen Anschuldigungen zu beleidigen. Doch so oft ich meine Bedenken auch verwarf, sie wurden stetig größer. Also entschied ich mich für die einzig verbleibende Möglichkeit, Klarheit zu erlangen: Ich musste Insassin S-543 ausquetschen.

Mir war Grace durchaus bekannt. Ein junges attraktives Ding, untergebracht in meinem Zellenblock 31-69b. Dennoch brauchte ich eine passende Gelegenheit, um alleine mit ihr zu reden. Und die ergab sich heute bei der Morgentoilette: Wie jeden Morgen wurden die Insassinnen in Gruppen zu den Waschräumen geführt. Nicht selten kommt es vor, dass der zum Waschen gewährte Zeitraum von einigen Insassinnen nicht eingehalten wird. Heute war es Grace, die noch an den Waschbottichen stand, während wir bereits damit begannen, die Insassinnen zurück zu ihren Zellen zu führen. Das war meine Chance. Ich deutete den anderen Wärtern an, dass ich mich um sie kümmern würde. Sie nahm mich nicht wahr, als ich mich ihr von der Seite her näherte.

Die graue Gefängniskleidung, die sich eng an ihren Hintern legte, ihre schmale Taille, die wohlgeformte Brust und ihre blonden Haare machten aus ihr eine sinnlichere Frau als es für einen Knast gut sein konnte. Meine Augen ruhten einen Moment auf ihrem Körper. Dann drehte sie sich um und schaute mir direkt in die Augen. Ihr Blick hatte etwas unaussprechlich Anziehendes. Für ein paar Sekunden vergaß ich mein eigentliches Vorhaben. Dann trat ich an sie heran: »Insassin S-543, ich weiß über dich und den Gefängnisarzt Bescheid!«.

Ein tückisches Grinsen durchzog plötzlich ihr Gesicht. Gleichzeitig kam sie nah an mich heran, legte ihr Gesicht dicht an meines und flüsterte mir etwas ins Ohr, wie: »Und jetzt? Willst du mich auch?«. Ich stieß sie harsch von mir und entgegnete: »Deine widerwärtigen Spielchen kannst du Miststück mit jemandem anderen treiben! Ich will wissen, ob Ros … ob noch weitere Insassinnen daran beteiligt sind.« Ich Idiot war so perplex von ihrer offensiven Anbiederung, dass ich Roses Namen ausgesprochen hatte. Die Augen von Grace blitzten diabolisch. »Oh nicht doch! Die kleine XXXXXXXXSchlampe bedeutet dir etwas!«, rief Grace. Die Beleidigung von Rose war zu viel für mich. Ich packte Grace am Hals und drückte sie brutal an die Wand. Sie lachte. Ich drückte fester. Sie lachte nur noch lauter.

»Was willst du tun? Mich umbringen?«, röchelte sie. »Was hat Rose mit deinen Abartigkeiten zu tun?«, ich lockerte meinen Griff. »Ist sie wie du?«. »Du armer Kerl! Verliebst dich in eine Insassin und glaubst, sie empfände das Gleiche? Dabei dachte ich immer, ICH würde Männer hinterhältig verführen. Aber Rose ist da wohl um einiges perfider«, antwortete Grace mir mitleidig. Der heuchlerische Unterton in ihrer Stimme war jedoch nicht zu überhören. Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, klang wie eine Lüge. »Wieso sollte ich deinem Gefasel Glauben schenken? Rose ist gewiss nicht so wie du!« »Ja, die liebe arme Rose, stellt sich immer gerne als das unschuldige Opfer dar. Wenn du dir sicher wärst, hättest du mich nicht aufgesucht«, entgegnete mir Grace.

Das wehrlose Opfer …. In diesem Moment spürte ich, dass alles wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Die Galerie. Rose hatte mir nie erzählt, was passiert war oder was es mit dem Gin auf sich hatte. Ich hatte sie immer nur als Opfer, nie als Insassin oder jemanden, der mein Vertrauen erschleichen wollte, gesehen. Meine Körperhaltung verriet mich: Grace spürte, dass meine Zweifel die Oberhand gewonnen hatten.

»Die Wahrheit ist schmerzhaft«, sagte sie triumphierend, während sie mit ihrer Hand über meine Wange streichelte, »doch solltest du jemanden zum Lieben brauchen, bei mir weißt du, woran du bist.« Ich konnte nicht fassen, dass sie dachte, ich wäre immer noch empfänglich für ihre Schmeicheleien und griff nach meinem Knüppel.

Mit dem heutigen Tag weiß ich: Franz Sylvius hatte recht. In uns allen herrscht Dunkelheit und es ist zwecklos, gegen sie anzukämpfen.

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